Eine Sa(r)ge – Trauerspiel an Österreichs (nicht) ewigem Eis

Eindringliche Symbolik, das bietet der Schauplatz der am 5. September 2023 von POW AT abgehaltenen Trauerfeier für die Pasterze an der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe in Heiligenblut. Denn die Pasterze schwindet aufgrund des rasanten Klimawandels dahin, im vergangenen Jahr schneller als je zuvor. Durch den Verlust der Gletscherzunge verliert die Pasterze ihren Status als größter Gletscher Österreichs. Eindringliche Symbolik bieten an diesem Tag auch die katholische und die evangelische Kirche, die die Prozession begleiten und mit ihren Worten umrahmen. Die Glocknerkapelle sowie die drei Redner:innen leisten einen weiteren Beitrag zum Gelingen des festlichen Requiems. Als kurzweilig bleibendes Symbol, und kurzerhand neue Touristenattraktion und Selfie-Motiv, formte der Künstler Max Seibald einen Sarg aus Eis. Ein Sarg, der eine Geschichte zu erzählen hat. Eine Geschichte voll eindringlicher Symbolik.

Österreichs Alpen, eine mächtige Struktur aus Gestein, unvorstellbar in ihrer Größe und Gewalt. Ihre einzelnen Gipfel erheben sich hoch hinaus über mich, verschwinden oft hinter den Wolken, aus denen der Regen sich im Tal ergießt. Und dennoch leben viele meiner Verwandten dort oben in diesen unwirtlichen Gegenden. Sogar meine Urgroßeltern harren dort noch aus. Heute besuche ich meine Lieblings-Uroma, die Pasterze! Bei ihr ist es so schön, am Fuße des Großglockners. Neben ihr, die als größte Eismasse Österreichs bekannt ist, bin ich ganz ganz klein. Sie freut sich aber bestimmt riesig, wenn ich komme!

Ganz frisch in Form gegossen, mache ich mich auf den weiten Weg aus dem Tal hinauf. Am Parkplatz bei Uroma warten schon ganz viele helfende Hände auf mich, denn ich kann leider nicht selbst gehen. Ich kann nur liegen. Es ist noch früh am Morgen, es ist noch frisch. Als dann aber Bewegung in mein Gestell kommt, wird mir sogleich ganz warm. Meine schützende Kleidung wird mir abgenommen, ein Dutzend emsiger Menschen hebt mich auf eine Trage in die Sonne. Was für ein schöner Tag, die Sonne wärmt mein Antlitz, im Tal klebt noch der Nebel, alles ist friedlich. Und Uroma hat sich wohl wirklich sehr auf mich gefreut! Ein Begrüßungskomitee steht für mich bereit, vier Männer blasen mir zu Ehren eine wunderschöne Melodie durch ihre goldenen Instrumente. Eine Frau und ein Mann in schönen Roben begrüßen mich mit ehrfürchtigen Worten.

„Umweltschutz ist ein integraler Bestandteil der Nächstenliebe!“

Engelbert Guggenberger, Bischofsvikar Domprobst

Meine Uroma hat sich für meinen Empfang richtig bemüht! – © Luca Jaenichen

“Hoch auf drei. Eins, zwei, DREI!” ruft einer aus dem Dutzend Leute, die Hand an mir anlegen. Und schon schaukle ich in der Luft. Juhu, gleich bin ich bei Uroma! “Links. … Links. … Links.” Mit jedem Links komme ich ihr einen Schritt näher. Ich freue mich schon so lange darauf. Uroma hat so viele Geschichten zu erzählen, von ihr kann ich so viel lernen. Sie hat so viel auf dieser Welt bereits miterlebt! Rund um sie wurden Tiere zur Welt gebracht, Gipfelerfolge gefeiert, Landwirtschaft entwickelt und Land erschlossen. Meine Uroma hat Kriege miterlebt, Seuchen und eine Vielzahl an Veränderungen ihrer Umgebung. Was sie mir wohl heute für eine Geschichte erzählt? Hoffentlich eine schöne!

“Eins, zwei, drei, und ab!” Ich werde abgesetzt. Verschnaufpause. Rund um mich tropft der Schweiß. An mir tropft es auch. Das ist komisch, ich kenne das nicht. Haben mich die Menschen um mich herum mit ihrem Schweiß angesteckt? Nein, das kann nicht sein. Ich schwitze nicht, ich bin immer kalt. 0°C Körpertemperatur, das weiß ich ganz genau! Dennoch steht das Wasser auf meiner Stirn. Habe ich vielleicht doch Fieber?

Und wieder schaukle ich zwischen den kleinen Schritten meiner Helferlein in der Luft herum. Langsam aber sicher nähern wir uns der Pasterze, bald erblicke ich sie endlich, meine Uroma! Aber… Uroma… dir steht ja auch das Wasser auf der Stirn? Du hast schon richtig viel geschwitzt, schon so viel von deiner Größe verloren! Uroma, geht es dir gut? In einiger Entfernung zur Pasterze werde ich auf einem Steinpodest abgestellt. Das Dutzend Menschen entfernt sich von mir, bei mir bleiben die Musiker, die Pfarrerin und der Bischofsvikar. Ein Lied, dann eine Rede. 

Meiner Uroma geht es nicht gut. Einige Menschen haben eine Rede gehalten. Sie alle sagen, es geht ihr nicht gut. Sie hat Fieber, und das hat dramatische Folgen. Stunde für Stunde bricht meiner Uroma die Substanz weg. Tag für Tag ergeht es unseren Verwandten auf der ganzen Welt genau gleich. Woche für Woche erleben unsere Artgenossen, die Flüsse und Wälder, Vögel und Insekten, die ganze Natur, die Symptome ihres Fiebers. Und auch die Menschen selbst kommen stark ins Schwitzen.

“Mit der Ausrufung des Anthropozäns als neues Erdzeitalter offenbart sich eine Neubewertung im Zeichen menschlichen Handelns und dramatischer Veränderungen unser Umwelt. Es stellt sich die Frage, ob wir mit einem Gletscherbegräbnis die Vergangenheit, das Holozän, abschließen oder vielmehr das neue Erdzeitalter mit einem solchen beginnen im Sinne eines Aufrufs zur Änderung unseres Verhaltens und zur noch möglichen Rettung der Welt.”

Barbara Pucker, Geschäftsführerin National Park Hohe Tauern

“Die Pasterze ist der Fieberthermometer Österreichs. Viele von uns wiegen sich in Sicherheit und glauben, Österreich sei eine Insel der Seligen. Aber genauso wie die Erde keine Scheibe ist, ist Österreich keine Insel.”

Christian Salmhofer, Geschäftsführer Klimabündnis Kärnten

“Es wäre aus wirtschaftlicher Sicht völlig unsinnig, keinen Klimaschutz zu betreiben. Berücksichtigt man dann noch die unmittelbaren Auswirkungen auf unsere Lebensqualität […], dann gibt es für das weitere Hinauszögern des Handelns in der Klimapolitik gar kein vernünftiges Argument mehr.”

Nina Knittel, Wegener Center Uni Graz

Die Ökonomin Nina Knittel richtet ihre Worte an die Menschen. Krankenpflege zahlt sich aus, Krankheitsvorsorge sowieso. – © Luca Jaenichen

Auch ich habe Fieber. Die Menschen haben mich angesteckt. Sie wollten das nicht und versprechen mir Heilung! Auch für meine Uroma legen sie sich ins Zeug, haben versucht, möglichst viele Menschen heute mitzubringen, die ihr angeblich helfen wollen. Die ihr Leiden sicher lindern können. Wie ich höre, hätten schon gestern einige wichtige Entscheidungsträger:innen kommen sollen, um zu diskutieren, welche der vielen bekannten Behandlungen meiner Uroma möglichst schnell und gut helfen sollen. Die meisten von ihnen haben ihre Zusage spontan zurückgezogen. Ein kalter Schauer läuft über meinen schweißnassen Rücken. Doch die Vielzahl an Menschen, die sonst an meiner Seite stehen und mir helfen, geben mir Hoffnung. Mir ist warm, und das nicht nur wegen des Fieberschubs.

Meine Uroma wird mir nicht mehr lange Geschichten erzählen können, sie ist schon sehr schwach. Ich bleibe heute hier, um ein letztes Mal von ihr zu lernen. Die Menschen gehen, diese Nacht gehört nur uns beiden. Es ist jetzt 19:35 Uhr, die Webcam macht ein letztes Bild von uns. Morgen bin ich vermutlich nicht mehr da, nur meine Uroma. Wie lange wird sie noch krank sein? Ich bin so klein, das Fieber rafft mich schnell dahin. Aber bitte, alle ihr da draußen, helft meiner Uroma und all unseren Verwandten dabei, ein gutes Ende zu finden!

In der Nacht sind wir zu zweit allein. Ich lausche der Weisheit der Pasterze. – © Panomax

Titelbild © Luca Jaenichen