Vom Hof auf den Tisch

Einige Gedanken zur Mitteilung der Europäischen Kommission für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem 

Mitte April habe ich, in Zeiten des Corona-Lockdown, versucht, einige Fragen von Moritz Nachtschatt zum Thema Corona-Krise und Nachhaltigkeit in einem Blog Beitrag zu beantworten. Nun liegen die größten Einschränkungen dieser Phase zum Glück hinter uns. In diesem Beitrag ging es auch um die Frage, ob die ambitionierten Ziele des Ende 2019 von der neuen Europäischen Kommission (EK) unter Ursula von der Leyen präsentierten Green Deal durch die Corona-Krise ‚verwässert‘ oder verzögert werden könnten. Eine teilweise Antwort darauf liegt nun mit der am 20. April 2020 veröffentlichten Mitteilung‚Vom Hof auf den Tisch‘ – eine Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem“ vor. Im Folgenden soll diese Mitteilung kurz vorgestellt, sowie einige Gedanken dazu angestellt werden.

(Hinweis: für weitere Aktivitäten in diesem Kontext des Green Deal wie die Kreislaufwirtschaft oder die Biodiversitätsstrategie, siehe die folgende Übersicht).

Abbildung 1: Übersicht Green Deal (Quelle: EK)

Vom Hof auf den Tisch, bzw. zur Gabel – ähnliche Gedanken in verschiedenen Bereichen

Der heutige Slogan ‚Vom Hof auf den Tisch‘ erinnert sehr stark an den seinerzeitigen Slogan ‚Vom Hof bis zur Gabel‘ (‘from farm to fork‘), der im Kontext der BSE-Krise geprägt worden ist (EK, 1999, Rn. 83; Frischhut & Greer, 2017, 336-337) und eine Parallele zur Corona-Krise verdeutlicht, nämlich die Bedeutung von Nachvollziehbarkeit (‘traceability’). Während es damals um die Nachverfolgung von kontaminiertem Fleisch ging, geht es heute um die Nachvollziehbarkeit von menschlichen Kontakten. Dies verdeutlicht den auch in dieser Mitteilung (S. 2, etc.) angesprochenen Zusammenhang zwischen der COVID-19-Pandemie und der Green Deal Thematik.

„Die COVID-19-Pandemie […] hat uns auch die Wechselwirkungen zwischen unserer Gesundheit, unseren Ökosystemen, Versorgungsketten, Verbrauchsmustern und den Belastungsgrenzen unseres Planeten sehr bewusst gemacht.“ (S. 2)

Beide Krisen hängen zusammen und beide Krisen gilt es zu meistern. Wie die Mitteilung erwähnt, schenken „[d]ie Menschen […] Umwelt-, Gesundheits-, Sozial- und Ethikfragen immer mehr Aufmerksamkeit und achten mehr denn je auf den Wert von Lebensmitteln“ (S. 2-3). Nachvollziehbarkeit (vom Hof auf den Tisch) ist in diesem Kontext von Lebensmittelsystemen notwendig, um Vertrauen der Verbraucher*innen zu stärken und Skandale zu vermeiden.

Vertrauen führt uns auch zum Ausgangspunkt des angesprochenen Green Deal. Da sich die Bürger*innen immer mehr von der Idee des Europäischen Integrationsprojekt entfernt hatten, war es eine kluge Entscheidung der aktuellen Europäischen Kommission, diese Bedenken hinsichtlich der Klima-Krise ernst zu nehmen und zu einem zentralen Gedanken der aktuellen Agenda zu machen. Dies hat der Green Deal auch mit dem zweiten zentralen Gedanken der Politischen Leitlinien von Kommissionpräsidentin von der Leyen gemeinsam, der Digitalisierung; auch dort geht es ganz zentral um den Gedanken von Vertrauen durch eine ethische Form von Digitalisierung (Frischhut, 2019; Frischhut, 2020, im Erscheinen). Eine weitere Parallele gibt es: in den beiden Bereichen der Digitalisierung (EK, 2018, Pkt. 2.6; Europäisches Parlament, 2019, Pkt. 148) einerseits, bzw. dieser Mitteilung andererseits, wird durch entsprechende hohe ethische Standards eine weltweite Vorbildwirkung angestrebt.

„Nun sollten europäische Lebensmittel auch in puncto Nachhaltigkeit globale Maßstäbe setzen.“ (S. 3)

Nachhaltigkeit – ein umfassendes Verständnis

Auch wenn es im Untertitel dieser Mitteilung um Fairness, Gesundheit und die Umwelt geht, so ist der Gedanke der Nachhaltigkeit (bspw. 160 Treffer auf den knapp 24 Seiten) darin ein wesentlicher Leitgedanke. Wie im bereits erwähnten Blog Beitrag ausgeführt, hat der berühmte Brundtland Bericht diesen Begriff wie folgt geprägt: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ Dieses Verständnis geht bekanntlich in eine ähnliche Richtung wie der bereits 1979 von Hans Jonas in seinem Buch ‚Das Prinzip Verantwortung‘ formulierte ‚ökologische Imperativ‘: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (S. 36).

Die Kommission geht in ihrer Mitteilung von einem ganzheitlichen Verständnis aus, wenn sei einerseits betont, „dass gesunde Menschen, gesunde Gesellschaften und ein gesunder Planet untrennbar miteinander verbunden sind“, bzw. dass „[e]ine Umstellung auf ein nachhaltiges Lebensmittelsystem […] ökologischen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Gewinn mit sich bringen [kann], wirtschaftliche Chancen eröffnen und sicherstellen, dass uns der Weg aus der Krise heraus in Richtung Nachhaltigkeit führt.“ (S. 2).

Die Mitteilung im Überblick

Wie sollen diese Ziele nun konkret erreicht werden?

  • 1. ‚Sicherstellung einer nachhaltigen Lebensmittelerzeugung‘: bspw. durch die Verringerung der Methanemissionen von Nutztieren und Ausbau der Energie aus erneuerbaren Quellen, sowie durch die Verringerung der chemischen Pestizide (S. 7); des Weiteren durch die Reduktion von Antimikrobiellen Resistenzen (AMR) durch Verringerung der Gesamtverkäufe dieser Mittel sowie Stärkung des Tierwohls (S. 9); durch Förderung des ökologischen Landbaus (S. 10), und bspw. Verringerung der „verschwenderische[n] Rückwürfe“ in der Fischerei (S. 11).

„Der Klimawandel und der Verlust an biologischer Vielfalt stellen akute und dauerhafte Bedrohungen für die Ernährungssicherheit und die Existenzgrundlagen dar. […] Werden die Lebensmittelerzeuger nachhaltiger, macht sie das letztlich auch resilienter.“ (S. 13)

Copyright: M.Nachtschatt
  • 2. ‚Die Ernährungssicherheit gewährleisten‘: Gerade in diesem Punkt zeigt sich der ganzheitliche Ansatz der Europäischen Kommission, wenn sie im Kontext einer ausreichenden und abwechslungsreichen Versorgung der Menschen mit „sicheren, nahrhaften, erschwinglichen und nachhaltigen Lebensmitteln“ auch die in der europäischen Säule sozialer Rechte verankerten Grundsätze anspricht, „insbesondere im Hinblick auf prekäre, saisonale und nicht angemeldete Beschäftigung“ (S. 13); man denke nur an Erntehelfer*innen oder Beschäftigte in der Fleischindustrie.
  • 3. ‚Förderung nachhaltiger Verfahren in den Bereichen Lebensmittelverarbeitung, Großhandel, Einzelhandel, Gastgewerbe und Verpflegungsdienstleistungen‘: Hier erwähnt die Kommission einen „EU-Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Unternehmens- und Marketingpraktiken“, sowie bspw. weniger Verpackung (Stichwort: Kreislaufwirtschaft) sowie Verzicht von Webekampagnen für Tiefstpreise von Fleisch (S. 14). Spannend bleibt auch die Frage der Einschränkung der Bewerbung von Lebensmitteln mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt (S. 15), konnte doch die Idee für ein entsprechendes ‚Ampel-System‘ im Bereich der Lebensmittelkennzeichnung in der Vergangenheit schlussendlich doch nicht realisiert werden. Aus der Sicht von Transit-geplagten Gegenden interessant klingt auch die Aussage der Kommission, „zur Schaffung kürzerer Lieferketten die Reduzierung der Abhängigkeit von Langstreckentransporten [zu] unterstützen“ (S. 15), ein Aufruf für regionale Produkte.

„Die derzeitigen Lebensmittelverzehrsmuster sind sowohl unter gesundheitlichen als auch unter ökologischen Gesichtspunkten nicht nachhaltig. Nach wie vor liegen die Energiezufuhr und der Verzehr von rotem Fleisch, Zucker, Salz und Fetten über den Empfehlungen, und Vollkorngetreide, Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte und Nüsse werden nicht in ausreichenden Mengen verzehrt.“ (S. 15-16)

  • 4. ‚Förderung eines nachhaltigen Lebensmittelverzehrs und Erleichterung der Umstellung auf eine gesunde und nachhaltige Ernährung‘: Während es letztendlich an uns allen liegt, unsere Ernährung in Richtung einer sowohl gesünderen als auch für die Umwelt nachhaltigeren Art und Weise umzustellen, möchte die Kommission mit einer harmonisierten obligatorischen Nährwertkennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite einerseits, sowie einer Ausweitung der obligatorischen Ursprungs- oder Herkunftsangabe auf bestimmte Erzeugnisse andererseits, unterstützend wirken (S. 16). Flankierend kommt dazu eine Beschaffung nachhaltiger Lebensmittel für Schulen, Krankenhäuser und öffentliche Einrichtungen (S. 16), sowie die Ankündigung von steuerlichen Anreizen betreffend die Mehrwertsteuer von Bio-Obst und -Gemüse (S. 17).
  • 5. ‚Verringerung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung‘: Dabei handelt es sich nach Aussagen der Kommission um „ein Kernelement“ auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit, das unter anderem durch eine Überarbeitung von falsch verstandenen Datumsangaben (Verbrauchs- und Mindesthaltbarkeitsdatum) erzielt werden soll (S. 17).
  • 6. ‚Bekämpfung von Lebensmittelbetrug entlang der Lebensmittelversorgungskette‘: Während Toleranz grundsätzlich ein Wert der EU ist (Art. 2 EUV), möchte die Kommission gegen Lebensmittelbetrug mit einer „Null-Toleranz-Politik“ vorgehen, da dadurch Verbraucher getäuscht werden und folglich „keine fundierten Entscheidungen treffen“ können (S. 18).
  • 7. Abgerundet werden solle dies durch interne Maßnahmen, die diesen Wandel durch ‚Forschung, Innovation, Technologie und Investitionen‘ einerseits, sowie ‚Beratungsdienste, Daten‑ und Wissensaustausch sowie Kompetenzen‘ andererseits ermöglichen sollen. Ergänzt werden soll diese interne Ebene durch eine externe Ebene (‚globaler Wandel‘) im Rahmen der Handelspolitik der EU (bspw. „null Toleranz gegen illegale, nicht gemeldete und unregulierte Fischerei“, oder Kontrollen bei der Einfuhr von aus Drittstaaten importierten Lebensmitteln; S. 22), um hier für gleiche Standards wie innerhalb der EU zu sorgen.

Würde man die Autorin (Europäische Kommission) der hier skizzierten Mitteilung nicht kennen, so hätten vermutlich viele Personen dieses Dokument eher einer Umwelt-NGO als der oft als zu neoliberal kritisierten Europäischen Kommission zugeschrieben. Diese Neuausrichtung entspricht den erwähnten neuen Politischen Leitlinien von Kommissionpräsidentin von der Leyen. Wie im ersten Blog Beitrag erwähnt, kann die Europäische Kommission nur Vorschläge machen (das sog. ‚Initiativrecht‘), als ‚europäische Gesetzgeber‘ formal anzunehmen haben solche Vorschläge das Europäische Parlament einerseits, sowie im sogenannten Ministerrat die nationalen Minister*innen andererseits.

Vor diesem Hintergrund umso wichtiger ist es, dass die Kommission die Bürger*innen aufruft, „sich an einer breit angelegten öffentlichen Debatte zu beteiligen, um eine nachhaltige Lebensmittelpolitik zu formulieren, und zwar auch im Rahmen von Versammlungen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene“ (S. 23). Ein Jean-Monnet-Kollege aus Paris, Alberto Alemanno, hat die Initiative ‘The Good Lobby‘ initiiert, die die Vertretung derjenigen Interessen (‚Lobbying‘) propagiert, die in einer Demokratie am stärksten sein sollten, nämlich diejenigen der Bürger*innen selbst. Dieses Beispiel zeigt, dass es an den Bürger*innen liegt, über die Wahlen zum Europäischen Parlamente einerseits (zuletzt Mai 2019, nächstes Mal Mai 2024), bzw. über die Meinungsbildung in den Mitgliedstaaten (via Minister*innen, die die nationalen Interessen im Ministerrat vertreten) andererseits, ihre Stimme in Europa zu nutzen.

Markus Frischhut, passionierter Snowboarder und Skifahrer, sowie Jean-Monnet-Professor für EU Recht, Ethik und Werte.

Author: Markus Frischhut