Die Lawinengefahr im Schnee aufspüren – Interview mit Lukas Ruetz
Lawinenkommissionen und Lawinenwarndienste sind nicht mehr wegzudenkende Organisationen in Österreichs Wintern. Was genau sie machen, könnt ihr in unseren beiden vorangegangenen Blogartikeln nachlesen! Die Qualität ihrer Arbeit wird jedenfalls durch die tatkräftige Unterstützung von Beobachter:innen sichergestellt. Sie sind der sechste Sinn, der für die Einschätzung der Lawinengefahr unerlässlich ist! Lukas Ruetz beantwortet uns im folgenden Interview einige Fragen über seine Arbeit als Beobachter für den LWD Tirol. Er beschäftigt sich seit mehreren Jahren intensiv mit Schnee- und Lawinenkunde, im Schnitt ist er von Oktober bis Ende Juni auf Skiern unterwegs.
Thomas: Beim Lawinenwarndienst bist du vor allem als “Beobachter” involviert. Wie sieht deine Arbeit dort genau aus? Wie profitiert der Lawinenwarndienst von deiner Arbeit?
Lukas: In ganz Tirol gibt es ca. 40 Personen, die im ganzen Land verteilt Schneeprofile graben und als Beobachter tätig sind. Außerdem melden wir dem LWD über verschiedene Kommunikationsarten alles, was für die Schneesicherheit relevant ist. Hauptsächlich geht es dabei um Lawinenbeobachtungen. Außerdem gibt es Frühbeobachter, sie betreuen ein Messfeld, in dem täglich um 6 Uhr morgens die Schneehöhe, Schneetemperatur und Schneebeschaffenheit erhoben werden. Heute wird diese Arbeit mit den Daten der Wetterstationen kombiniert. Dennoch ist diese Arbeit der Frühbeobachter wichtig, so weiß man beispielsweise, dass es in Obergurgl seit 1960 zu Jahresbeginn noch nie so wenig Schnee gab wie in dieser Saison.
Thomas: Wie entscheidest du, aus welcher Region oder von welchem Berg du Daten lieferst? Es gibt ja möglicherweise interessantere Gebiete als andere, nutzt du besondere Tools zur Tourenplanung oder kennst du “dein” Gebiet, das Sellraintal einfach so gut?
Lukas: Aus Zeitgründen bin ich meistens daheim unterwegs. Dort kenne ich mich so gut aus, dass ich meist immer weiß, wo sich Touren lohnen, nicht nur wenn es um Lawinengefahr geht, sondern auch beim Thema Schneequalität. Ich entscheide hauptsächlich nach Höhenlage und Exposition.. Es kommt vor, dass ich mehrmals hintereinander die gleiche Skitour mache, wenn dort die geringste Lawinengefahr und beste Schneequalität gegeben ist. Ich bin nicht auf bestimmte Ziele fixiert, sondern richte mich nach den Bedingungen. Langfristige Ziele und Pläne setze ich dann um, wenn es passt.
Thomas: Gibt es Anforderungen des LWD, wie oft und von wo ein Beobachter Daten einbringen muss? Wie ist das im Fall von Lawinenunfällen in deiner Gegend?
Lukas: Nein, das beruht auf Freiwilligkeit, manche Beobachter melden häufiger als andere, dies ist auch abhängig von der Zeit und Arbeit der Beobachter. In Fällen von Lawinenauslösungen gehe ich aus eigenem Interesse in dieses Gebiet, um an einem sicher erreichbaren Standort ein Schneeprofil zu graben. Wo ich für mich interessante Erkenntnisse gewinne, ist es aber natürlich auch für den LWD nützlich. In Lawinenanrissbereiche zu gehen, machen allerdings wenige andere Beobachter, da die meisten durch ihren eigentlichen Beruf, z.B. Bergführer oder Angestellte im Skigebiet, örtlich viel mehr gebunden sind.
Thomas: Weil du gerade die Berufe anderer Lawinenbeobachter ansprichst, würde es mich auch interessieren, was du abseits deiner Unterstützung des Lawinenwarndienstes machst?
Lukas: Sonst lebe ich mittlerweile von Schnee und Lawinen, dabei hauptsächlich von Auftragsarbeiten. Damit meine ich Vorträge und Kurse und über diese Themen in Magazinen oder auf meinem Blog zu schreiben. Ein kleiner Teil ist noch, dass ich Social Media für den Tiroler LWD mache. Außerdem verkaufe ich noch Schneeprofilsets, wobei das eine sehr kleine Nische ist. Was noch dazukommt, ist die eigene Landwirtschaft. Der Rest der Familie betreibt dann noch den Gasthof “Ruetz” wo ich selbstverständlich öfters aushelfe.
Thomas: Du publizierst und vertreibst also dein Wissen über Schnee, Schneeprofile, Tourenwahl usw. sogar über verschiedene Medien. Dazu bedarf es sehr viel Erfahrung, du bist ja noch nicht einmal 30 Jahre alt. Wie bald hast du mit dem Skitourengehen angefangen und wie viel Wissen hast du aus der Praxis mitgenommen? Oder kommt auch einiges aus der Theorie, vom Besuchen von Workshops oder Ähnlichem?
Lukas: Der Großteil kommt bestimmt aus der Praxis, und zwar aus der Reflexion des Beobachteten und Erlebten. Von Workshops oder Ausbildungen kommen vielleicht 5 bis 10 Prozent meines Wissens. Vieles ist also selbst erarbeitet, ich bin jetzt doch schon zweieinhalb Millionen Höhenmeter auf Skitour unterwegs gewesen, seit ich mit 16 begonnen habe. Und da sieht man einfach Sachen, wofür andere wahrscheinlich zehn Leben brauchen. Dadurch dass ich auch viel alleine unterwegs bin und immer schon war, hatte ich schon immer viel Zeit zum Nachdenken. Wenn einen dann, so wie mich, Schnee sehr interessiert, denkt man mehr darüber nach als über Alltägliches. Den meisten Leuten fällt nicht einmal auf, dass der Schnee in kupiertem Gelände sonnseitig eine andere Konsistenz hat als schattseitig. Dabei meine ich nicht den Unterschied zwischen Nassschnee und Pulver, sondern die kleinen Unterschiede wie jetzt kürzlich bei den hohen Temperaturen um Neujahr. Sonnseitig war der Schnee zu Mittag schon bis auf 3000 m feucht, schattseitig ab etwa 1900 m und darüber aber trocken. Die 0-Grad-Grenze war aber bei 3000 m, jeder meint aber immer, dass Schnee immer bis zur 0-Grad-Grenze feucht ist. Wenn man sich das in Ruhe durch den Kopf gehen lässt, sich denkt: “Ma, wie geht denn das? Dass der Schnee bei 10 Grad plus trocken bleibt?”. Dann macht man sich in Büchern usw. auf die Suche und lernt dann die Zusammenhänge. Auf einer Ausbildung lernt man das zwar teilweise auch, aber da geht das so schnell, dass man das, meiner Meinung nach, nicht komplett verstehen kann. Die Wirkung der Luftfeuchtigkeit und des Taupunktes auf den Schnee kann man nicht in fünf Minuten erklären. Und schon gar nicht, ohne die Gedanken im Gelände zu verifizieren. Ein richtiges Gefühl für Schnee und wie sich dieser verändert und verändern wird, kann man nur bekommen, wenn man täglich draußen im Schnee unterwegs ist und das im gleichen Gebiet. So bemerkt man die Schneeveränderung und kann sie mit dem theoretischen Wissen verknüpfen. Mein Grundlagenwissen aus Büchern ist dafür unausweichlich. Auch heute schaue ich mir immer wieder neue Literatur und wissenschaftliche Publikationen an.
Thomas: Was kannst du aus einem Schneeprofil herauslesen, wie viel Hintergrundwissen bedarf es dazu? Zum Beispiel über das Wetter der vergangenen Tage oder Luftfeuchtemessungen?
Wie gewinnst du deine Erkenntnisse aus einem Schneeprofil?
Lukas: Die Grundsachen kann relativ schnell jeder aus einem Schneeprofil herauslesen, zum Beispiel die Dicke und Härte der Schneeschichten. Aber bei Wetterablauf und solchen Sachen wird es gleich einmal deutlich komplexer. Was man aus einem Schneeprofil auch herauslesen kann, wo viele nicht daran denken, ist die Schneemenge. Man sollte sie ja eher dort graben, wo wenig Schnee liegt. Wenn ich jetzt in einer Region viele Profile sehe, und die haben alle 50-60 cm Schnee, kann ich daraus zum Beispiel schließen, ob ich überhaupt Skitouren gehen kann. Bei Regionen wie den Stubaier oder Ötztaler Alpen etwa, die aus metamorphem Gestein bestehen, braucht man mindestens einen dreiviertel Meter bis Meter, um ordentlich Skitouren gehen zu können. Und die Schichten an sich lassen auch auf den Wetterverlauf schließen. Einfach ist zum Beispiel durch Schmelzkrusten auf Regenfälle zu schließen. Bei aufbauend umgewandelten Schichten, also Schwimmschnee oder Tiefenreif, wird es schon komplizierter. In den allerfeinsten Details, geht es dann um die zeitliche Zuordnung von Schichten.
Thomas: Was sollten deiner Meinung nach alle Skitourengeher:innen aus einem Schneeprofil herauslesen können, um einzuschätzen, ob die Lage nun sicher ist oder nicht?
Lukas: Wichtig ist, dass man mit nur einem Schneeprofil keine Einzelhangbeurteilung machen kann, das ist unmöglich. Es gibt Ausreißer, Stellen im Hang, die stabiler sind und Stellen, die weniger stabil sind. Was alle machen können, ist, über das Analysieren von Schneeprofilgrafiken oder das Graben von Schneeprofilen im Gelände, ein Gefühl für Schnee und was in der Schneedecke vor sich geht, zu entwickeln. Ich habe immer den Lagebericht gelesen, auch am Anfang, als ich 16 oder 17 war, weil jeder gesagt hat: “Das soll man machen.” Ich habe aber auch nur mit der Gefahrenstufe etwas anfangen können. Die Lawinenprobleme hat es noch nicht gegeben, aus den Beschreibungen der Schwachschichten usw. konnte ich nicht herauslesen, wo ich nun hingehen kann oder nicht. Erst als ich regelmäßig in die Schneedecke hineingeschaut habe, habe ich verstanden, was die Lawinenwarner damit meinen und wie relevant es für meine Tourenplanung ist. Ob die Wahrscheinlichkeit, bei diesem Schneedeckenaufbau eine Lawine auszulösen, zu meiner Risikobereitschaft passt oder nicht.
Thomas: Du hast jetzt etwas angesprochen, das mir selbst auch schon öfter aufgefallen ist. Man weiß ja gar nicht genau, wie man entscheiden soll, ob man einen Hang jetzt geht oder nicht. Wie entscheidest du, wenn du im Gelände unterwegs bist, ob du weitergehst oder deine Route änderst? Gibt dir die Schneedecke viel Auskunft oder hast du den Lawinenlagebericht so stark im Hinterkopf bzw. kennst du die Verhältnisse in deiner Heimat einfach gut genug?
Lukas: Also ich denke, die meisten Lawinenunfälle kann man sowieso schon mit der richtigen Planung verhindern. Wenn man einfach der Situation entsprechend das Tourenziel auswählt. Dann steht man viel seltener vor dem Problem der Einzelhangbeurteilung vor Ort. Ich denke, dass die Einzelhangbeurteilung eine stark untergeordnete Rolle spielt, wenn man schon die richtige Tourenwahl trifft. Falls es dann doch einmal der Fall ist, das kommt bei mir natürlich auch immer wieder mal vor, dann mache ich das nur anhand von Gefahrenzeichen an der Schneeoberfläche. Zum Beispiel, wenn an unerwarteten Stellen massiv Triebschnee eingeweht ist.
Thomas: Ist es dir schon öfters passiert, dass sich deine erste Einschätzung anhand von Gefahrenzeichen an der Schneeoberfläche und der Situation im umliegenden Gebiet durch ein Schneeprofil als falsch herausgestellt hat?
Lukas: Ich würde sagen, zu, 96 bis 97 Prozent passt alles gut ins Bild. Aber es kommen immer wieder Profile vor, wo man sich denkt: “Boah, das hätte ich jetzt nicht erwartet!”. Das kann in beide Richtungen ausschlagen. Über die Zeit ist meine Einschätzung wesentlich besser geworden. Heute habe ich, bei gleichen Verhältnissen, oft ganz andere Einschätzungen als anfangs. Was sich auch bei mir in der Tourenplanung und in der Art, wie ich im Gelände unterwegs bin, verändert hat, ist, dass ich im Früh- und Hochwinter bei den meisten Situationen wesentlich defensiver geworden bin. Und im Frühjahr, bzw. bei entsprechend guten Verhältnissen im Hochwinter, bin ich deutlich offensiver geworden. Ich bin nicht mehr so schwammig im gleichen Mittelbereich unterwegs, im Sinne von “Bei einem Zweier geht das eh alles.” Ich nutze wirklich das ganze Spektrum, von ganz ganz defensiv sein bis ganz ganz offensiv sein. Mittlerweile vertraue ich meiner Einschätzung deutlich besser und kenne auch meine Risikobereitschaft.
Thomas: Und hast du die Situation schon einmal so falsch eingeschätzt, dass es Folgen gehabt hat?
Lukas: Ja, ich habe einmal eine Lawine ausgelöst, gleich als ich begonnen hatte, viel unterwegs zu sein. An meinem Verhalten hat das wenig geändert. Ich habe mir das damals auch angeschaut, war mit dem LWD Tirol oben und habe ein Profil gegraben. In der Situation galt eine niedrige Gefahrenstufe 2, schattseitig mit lokalen, schwer auslösbaren Schwachchichten. Nur an ganz wenigen Stellen war sie leicht auszulösen, und genau so eine habe ich damals getroffen. Mit dem heutigen Wissen, hätte ich diese Tour nicht mehr angespurt. Defensiver wurde ich aber nicht aus dem Schrecken über die Lawine, sondern aus dem Wissen, dass ich mir über die Zeit danach erarbeitet habe. Damals war ich alleine unterwegs. Dass es mit mir aus gewesen wäre, wenn ich verschüttet worden wäre, war mir klar. Ich war auch mit dem Bewusstsein unterwegs, dass ich immer eine Lawine auslösen kann und das auch Folgen hat, und bin es auch heute noch.
Thomas: Du warst damals alleine unterwegs. Wie sieht das heute bei dir aus? Es ist wahrscheinlich schwierig, jeden Tag jemanden zu finden, um mit dir auf Skitour zu gehen.
Lukas: Jetzt deutlich weniger als früher. Zu Beginn war ich bei etwa 95% meiner Touren alleine unterwegs, heute circa bei der Hälfte. Eben weil ich ganz wenig Tage habe, wo ich mich mit jemandem um 8 Uhr treffen kann, um eine Skitour zu gehen, und dann egal ist, wann ich heim komme. Den Großteil des Winters kann ich nicht vor 10 Uhr starten und muss um 17 Uhr wieder zuhause sein.
Thomas: Kommt es bei dir auch einmal vor, dass du eine Woche oder länger gar nichts mit dem Skitourengehen zu tun hast? Falls ja, wie kommst du dann danach wieder auf den aktuellen Stand bei der Schnee- und Lawinensituation?
Lukas: Ja, das kommt bei mir natürlich vor. Aber ich schaue mir halt mehrmals am Tag verschiedene Webcams und Wetterstationsdaten an. Natürlich verfolge ich außerdem den Wetterverlauf immer. Und ich habe ein riesiges Netzwerk an Leuten, die sich immer wieder bei mir melden, wenn sie irgendetwas Interessantes bezüglich Lawinen bei mir in der Gegend beobachtet haben. Und ich schaue mir täglich vom Lawinenwarndienst alles an. Auch wenn man selbst nicht in den Schnee hinaus kommt, hat man zwar ein Bild mit weniger guter Auflösung, aber es ist trotzdem da. Die wichtigsten Sachen, die kann man super verfolgen. So ganz aus meinem Alltag ist das Skitourengehen also nie verschwunden.
Thomas: Zum Abschluss noch zwei Fragen zu deiner Heimat, den Sellrainer Bergen. Beginnen möchte ich mit deiner Wahrnehmung zur Entwicklung des Wintersports bzw. Tourismus der Region?
Lukas: Das Skitourengehen ist komplett explodiert, das ist nicht von der Hand zu weisen. Bei Gästen und Einheimischen. Ein Beispiel, woran man es eindeutig merkt, sind die größeren Skitourenparkplätze. In Praxmar war er früher nur an ein bis zwei Wochenenden in der Saison überfüllt, jetzt ist das oft jedes zweite oder dritte Wochenende der Fall. Touren anspuren konnte man früher auch noch zwei Tage nach dem Neuschnee, mittlerweile liegt schon am ersten Tag um 6 Uhr Früh eine Spur im Schnee. Wirkliche Probleme daraus sind vor allem die Verkehrsbelastung, Parkplatzengpässe und Nutzungskonflikte im Naturraum. Hier erleben wir leider immer wieder, dass auch Leitsysteme an Wildschutzzonen vorbei nicht dauerhaft funktionieren. Bei uns in der Region haben wir schon viel gemacht, viel beschildert und mit Wimpelleinen, die z.B. Rebhuhn-Ruhezonen abgrenzen, gearbeitet. Sogar eigene Waldschneisen zur Gästelenkung in Aufstieg und Abfahrt wurden geschlagen. Wenn sich aber nur ein Prozent nicht an die ausgewiesenen Regeln hält, ist der ganze Schutz der Tiere schon wieder ziemlich sinnlos. (Tipps für respektvolles Verhalten am Berg gibt es in diesen Blogbeiträgen für Winter und für Sommer.)
Thomas: Zu guter letzt würde mich noch interessieren, welche deine Lieblingsskitour ist. Verrätst du uns deine Geheimtipps?
Lukas: Mein “Geheimtipp” für euch ist der Lüsener Fernerkogel. Ich mag diese Tour wahnsinnig gerne, weil man lange unterwegs sein kann und alles hat, von Powderabfahrten über den großen und wunderschönen Gletscher bis hin zu einer ca. 100 Höhenmeter langen Kletterei über den Blockgrat im Gipfelbereich. Und das Beste: Ein markanter Gipfelaufbau, der genau so aussieht, wie ein Kind einen Berg zeichnen würde!
Titelbild – © Lukas Ruetz